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Patientinnen und Patienten mit aggressivem Verhalten können für therapeutisch-pflegerische Mitarbeitende in der Psychiatrie sehr herausfordernd sein. Wie im klinischen Alltag mit Wut und Aggression umzugehen ist und woher diese Phänomene kommen – darüber haben sich Fachpersonen an der Jahrestagung der Psychiatrie Baselland ausgetauscht.

Liestal, 8. Mai 2023

Die psychische Belastung der Bevölkerung hat in den letzten Jahren zugenommen. Die Pandemie hat diese Entwicklung noch befördert. Emotionale Dünnhäutigkeit, Stress in Beruf und Familie oder die allgemeine Reizbarkeit hat bei vielen Menschen das Aggressionspotenzial ansteigen lassen.

Dieses gesellschaftliche Phänomen widerspiegelt sich auch in der Psychiatrie. Fachpersonen haben an der Jahrestagung der Psychiatrie Baselland (PBL) in Liestal das Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet. Sie haben darüber referiert, diskutiert und reflektiert, wie sich Wut und Aggression auf die therapeutische Beziehung zwischen Patientin oder Patient sowie Therapeutin oder Therapeut auswirkt.

Zunahme der psychiatrischen Inanspruchnahme 

Die Zahl der erwachsenen Patientinnen und Patienten in ambulanten psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxen ist in den letzten zehn Jahren laut Bundesamt für Statistik auf fast sechs Prozent der Bevölkerung gestiegen. Bei den stationären Aufenthalten ist der Anteil mit fast einem Prozent über die Jahre ziemlich konstant geblieben. Zugenommen haben hingegen die Hospitalisierungen von Kindern und Jugendlichen sowie die Fürsorgerischen Unterbringungen in psychiatrischen Institutionen bei Erwachsenen.

Aggression gegenüber Mitarbeitenden

Der Eindruck, dass aggressive Vorfälle in der Psychiatrie zunähmen, sei verbreitet, sagte Professor Matthias Jäger, Direktor Erwachsenenpsychiatrie der PBL und Gastgeber der Tagung. Dazu gebe es aber in den Statistiken der Spitäler und Studien keine Hinweise. Es sei aber keine Tendenz festzustellen, dass Ereignisse in Zusammenhang mit Aggression gegenüber den Professionellen häufiger gemeldet und registriert werden; dies insbesondere bei leichteren Vorkommnissen von verbaler Aggression.

Die meisten Fälle von Aggression, die eine Zwangsmassnahme zur Folge hätten, träten im Zusammenhang mit der Aufnahme in die Psychiatrie auf, so Matthias Jäger. "Rund 80 Prozent dieser Massnahmen finden innerhalb von 24 Stunden nach der Einweisung in die Klinik statt."

Tiefgründige Analysen

Die Referierenden erörterten mit den rund 150 Tagungsteilnehmenden in ihren medizinischen, psychologischen, soziologischen und philosophischen, aber auch auf die klinische Praxis bezogenen Vorträgen und Diskussionen die Ursprünge von Wut und Aggression und deren Wirkung auf die therapeutische Beziehung und Praxis.

Der Sozialwissenschafter und emeritierte Professor am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, Hans-Joachim Salize, referierte in seinem Vortrag über die Dialektik von Dämonisierung und Instrumentalisierung, und Soziologe Professor Dirk Richter von den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern sprach über den gesellschaftlichen Wandel von Gewalterleben und Sicherheitsbedürfnis und dessen Einfluss auf das Gesundheitswesen.

Psychologin Laura Wolf von der PBL analysierte unter dem Titel "Aggressives verstehen – aggressives Verstehen" die Wechselwirkungen von Aggressionen zwischen Professionellen und Betroffenen in der therapeutischen Beziehung. Eine "vernunftkritische Selbstreflexion" im Umgang mit Aggression in der Psychiatrie vermittelte der Psychiater Professor Thomas Becker von der Universitätsklinik Leipzig.

Was eine therapeutische Beziehung gefährdet

Privatdozent und Beziehungsforscher Daniel Sollberger, stellvertretender Direktor Erwachsenenpsychiatrie der PBL, sprach über die Herausforderungen und Belastungen durch Rupturen wie etwa Suizidalität auf die therapeutische Beziehung. Sein neustes Buch handelt über die Beziehungsgestaltung und gibt tiefe Einblicke in dieses umfassende und interessante Thema.

Die psychotherapeutischen Aspekte von Ärger, Wut und Hass in Einzel- und Gruppentherapien – darüber referierte die Psychologin Christiane Rösch von den Psychiatrischen Diensten Thurgau. Und als besonderer Gastreferent aus New York zugeschaltet war der österreichisch-amerikanische Psychiatrieprofessor Otto F. Kernberg.

Der 94-jährige Doyen der Narzissmusforschung sprach über Narzissmus, Aggression und Selbstzerstörung und erhielt für seine Ausführungen einen speziellen Applaus des Publikums. Privatdozentin Anastasia Theodoridou, Chefärztin Krisenintervention der PBL, fasste die Ergebnisse der Tagung zusammen und leitete die Abschlussdiskussion.

Kontakt

Prof. Dr. med.
Matthias Jäger
Direktor Erwachsenenpsychiatrie,
Chefarzt Privatklinik